
Willkommen zu meinem heutigen Blogartikel über neurozentriertes Training, sowie praktischen Tipps zur Integration in den Alltag! Wie viele von euch ja bereits wissen, bin ich seit vielen Jahren begeisterte neurozentrierte Ergotherapeutin und Mentaltrainerin. Was es mit dieser (meiner Meinung nach noch immer viel zu unbekannten) faszinierenden Trainingsform auf sich hat und wie du mittels einfacher Übungen und Tests auf dem Niveau von Spitzensportlern arbeitest, erfährst du in diesem Artikel.
Auf der Suche nach Wegen, unsere Leistung zu steigern, Schmerzen zu reduzieren, unser Lernpotenzial auszuschöpfen, oder mehr Entspannung in unseren Alltag zu integrieren, hat sich die neurowissenschaftliche Forschung als eine äußerst spannende und vielversprechende Disziplin erwiesen.
Neurozentriertes Training basiert auf den neuesten Erkenntnissen über das menschliche Gehirn und bietet uns die Möglichkeit, unsere Fähigkeiten auf ein neues Level zu heben. Unbestritten spielt das Gehirn eine zentrale Rolle in unserem Leben und hat einen großen Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit, unser Wohlbefinden und unseren Erfolg*. Durch das Verständnis und die Anwendung von neurozentrierten Übungen können wir unser Gehirn gezielt trainieren und ein erfülltes Leben führen.
Was ist neurozentriertes Training?
Bei der neurozentrierten, oder auch gehirnbasierten Denkweise stehen Gehirn und Nervensystem im Mittelpunkt des Interesses. Diese Art von Training basiert auf der Idee, dass unser Gehirn eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Veränderung und Anpassung besitzt, die als Neuroplastizität bekannt ist. Während sich bisherige Therapie- und Trainingsansätze hauptsächlich auf biomechanische Konzepte stützen und Knochen, Sehnen, Muskeln und Bindegewebe fokussieren, schenkt man im neurozentrierten Training ebenso den neurologischen Abläufen Beachtung.
Mit gezielten Übungen und Methoden können wir die neuroplastischen Eigenschaften unseres Gehirns nutzen, um unsere physische Leistungsfähigkeit, die kognitiven Fähigkeiten und unsere emotionale Intelligenz zu verbessern. Das Ziel des neurozentrierten Trainings besteht darin, die neuronalen Verbindungen zu stärken, neue neuronale Pfade zu schaffen und unsere Gehirnfunktionen auf ein höheres Niveau zu bringen, um unsere körperliche, geistige und mentale Gesundheit zu steigern.
In meinen Seminaren und Workshops stelle ich meinen Teilnehmern gern eine Frage: "Welches Körperareal steuert und reguliert sämtliche Bewegungen und Körperfunktionen?" Die Antwort ist immer dieselbe: "das Gehirn!". Zusammen mit dem Nervensystem kontrolliert und reguliert es alle Prozesse im Körper und kann somit auch als "Chef" betrachtet werden.
Unser "Chef" und sein Nervensystem will eigentlich nur eines: den Körper vor Gefahren schützen und unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit aufrechterhalten. Dabei nimmt es über verschiedene Sinnesorgane Informationen auf, die aus der Umgebung, unseren Bewegungen und allen inneren Prozessen (z.B. der Atmung) stammen (Input) und interpretiert diese miteinander. Auf Basis der ausgewerteten Informationen wird ein Aktivierungs- oder Hemmungsprogramm erstellt und zur Umsetzung in die verschiedenen Körperbereiche gesendet (Output).

Unser Wohlbefinden hängt somit stark mit der Qualität der aufgenommenen Informationen, ihrer Weiterleitung und der Verarbeitung zusammen. Interessanterweise spielt das Gefühl der Sicherheit eine wichtige Rolle bei der Bewegungsfreiheit, die unser Gehirn zulässt. Wenn sich das Gehirn sicher fühlt, ist es eher bereit, Bewegungen und Stabilität zuzulassen und uns die Möglichkeit zu geben, neue Erfahrungen zu machen.
Unser Gehirn ist evolutionär darauf ausgerichtet, unsere Überlebensfähigkeit zu gewährleisten. In einer Umgebung, in der wir uns sicher fühlen, sind wir weniger besorgt um potenzielle Gefahren und können uns daher mehr auf andere Aktivitäten konzentrieren, einschließlich Bewegung. Das Gefühl von Sicherheit aktiviert den sogenannten "Ruhe- und Verdauungsmodus" unseres autonomen Nervensystems, der als parasympathisches Nervensystem bekannt ist. In diesem Zustand können wir entspannen, regenerieren und uns auf Aufgaben konzentrieren, die unsere körperliche und geistige Gesundheit fördern.
Wenn wir Handlungen ausführen oder uns in einer Umgebung befinden, die als bedrohlich oder unsicher wahrgenommen wird, aktiviert das Gehirn den "Kampf- oder Fluchtmodus" des sympathischen Nervensystems. In diesem Zustand sind wir auf erhöhte Wachsamkeit und schnelle Reaktionen ausgerichtet, um potenzielle Gefahren abzuwehren oder ihnen zu entkommen. In einer solchen Situation ist das Gehirn eher darauf fokussiert, Bewegungen einzuschränken und uns in einem defensiven Zustand zu halten.
Das Gefühl der Sicherheit hat direkte Auswirkungen auf die Funktionen unseres Gehirns. Wenn wir uns sicher fühlen, werden in unserem Gehirn Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin freigesetzt, die mit positiven Emotionen und Belohnungssystemen verbunden sind. Diese chemischen Botenstoffe fördern die Motivation, das Wohlbefinden und die Offenheit für neue Erfahrungen, einschließlich Bewegung.
Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass ein Gefühl der Sicherheit die Hemmschwelle im Gehirn senkt. Wenn wir uns sicher fühlen, sind wir weniger gehemmt und haben eine höhere Bereitschaft, neue Bewegungen auszuprobieren, Risiken einzugehen und unsere körperlichen Fähigkeiten zu erkunden. Dieser Zustand ermöglicht es uns, uns weiterzuentwickeln, neue Fähigkeiten zu erlernen und unser Bewegungspotenzial voll auszuschöpfen.
Wie Assessments helfen können, unseren Fortschritt zu messen und Übungen zu optimieren.
Für mich persönlich sind neurozentrierte Assessments die eigentlichen "Gamechanger" im Training und in der Therapie. Einige der Übungen, wie sie im Neuroathletiktraining oder im Neurozentrierten Training angewendet werden, sind mir schon länger bekannt. Was ich aber erst seit ein paar Jahren weiß, ist die Tatsache, dass jeder Mensch (und jedes Gehirn :-) unterschiedlich auf die Übungen reagiert und somit ein individuell maßgeschneidertes Übungsprogramm braucht. Assessments spielen deshalb eine entscheidende Rolle im neurozentrierten Training, da sie uns ermöglichen, unseren Fortschritt zu messen und die Effektivität unserer Trainingsprogramme zu bewerten. Ein und dieselbe Übung kann in einer Funktionsgruppe von Patienten folglich für manche sehr gut passen - sie können beweglicher werden, haben vielleicht weniger Schmerzen,... Einigen wird sie keinen Fortschritt, aber auch keine Verschlechterung bringen und bei anderen wiederum ist es sogar möglich, dass die Übung die Beweglichkeit einschränkt, oder sogar Schmerzen verursacht. Wir Trainer und Therapeuten nehmen häufig an, dass sich eine bestimmte Übung positiv auf den Patienten auswirkt. Das ist jedoch aus neuronaler Sichtweise nicht immer der Fall. Solange wir die Übungen nicht austesten, vermuten wir nur, dass sie eine positive Wirkung hat. Ohne die Wirkung einer Übung zu überprüfen, stellen wir nur Vermutungen an und wissen nicht genau, ob die durchgeführten Aktivitäten für das Nervensystem eine Verbesserungen bringen oder nicht.
Das Geniale an den Assessments ist also, dass jeder Mensch seine - für ihn sehr gut funktionierenden - Übungen austestet und nicht täglich 10 Übungen runterrattert, die ihm eigentlich nicht weiterhelfen. Mit wenigen, auf die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen abgestimmten Übungen trainiert man wie ein Spitzensportler exakt die Bereiche, die nötig sind, um seine Ziele rascher zu erreichen.
Wie du neurozentrierte Assessments einfach und schnell anwenden kannst...
... erkläre ich dir anhand von meinen drei Lieblingstests. Die Vorgehensweise bleibt dabei immer dieselbe. Du führst ein Assessment durch, zum Beispiel den Beweglichkeitstest "Rumpfbeuge", dann machst du deine Übung, wie etwa eine Kniebeuge und machst gleich im Anschluss wieder dein Assessment "Rumpfbeuge" als Re - Test.
Bist du beim Re - Test beweglicher geworden, spürst weniger Spannungen in der Muskulatur oder hast ein verbessertes Gleichgewicht, dann hatte deine Übung einen positiven Effekt auf dein Nervensystem und deine Innenwahrnehmung. Das heißt, dein Körper sagt: "JA! Her mit der Übung!".
Kannst du beim RE - Test keine Veränderung in der Beweglichkeit oder in deiner Stabilität bemerken, dann hat sie eine neutrale Wirkung und kann ins Training aufgenommen werden, oder auch nicht.
Wird die Ausführung deines Assessments beim Re - Test schlechter, so ist diese Übung in irgendeiner Weise für dein Nervensystem nicht eindeutig klar, bzw. sicher und wird als "bedrohlich" wahrgenommen. Der Re - Test ist damit fürs Erste schlechter ausgefallen und zeigt dir an, dass die Übung zum jetzigen Zeitpunkt einen negativen Effekt hat. Du kannst aber ganz entspannt bleiben, wir stellen nur ganz wertfrei die Wirkung der Übung auf das Nervensystem fest. Lass diese Übung einfach fürs Erste einfach weg und nutze stattdessen eine Übung mit einer besseren Wirkung.
Assessment 1 - Die Rumpfbeuge zur Überprüfung der Beweglichkeit
Nimm einen aufrechten hüftbreiten Stand ein, lass deinen Atem ruhig fließen und schau entspannt nach vorne.
Beuge dich jetzt so weit du kannst nach vorne und nimm die Spannung auf deiner Körperrückseite wahr. Wiederhole den Test zwei- bis dreimal, um ein Gefühl für deine allgemeine Beweglichkeit zu bekommen. Beuge dich jetzt wieder nach unten und nimm den Abstand von deinen Fingerspitzen zum Boden wahr. Wie viele Zentimeter fehlen bis zum Boden? Wie ist das Spannungsgefühl in deiner Beinrückseite? Merke dir diese "Werte", denn sie dienen später als Vergleichswert für den Re - Test.
Assessment 2 - die Rumpfrotation zur Überprüfung der Beweglichkeit
Nimm wieder einen aufrechten hüftbreiten Stand ein, richte dich gut auf und mache deine Wirbelsäule lang. Atme ruhig und fließend, schau gerade nach vorne. Hebe deine Arme nun gestreckt auf Schulterhöhe nach vorne und lege die Handflächen aneinander.
Rotiere nun zwei- bis dreimal nach rechts und nach links.
Achte darauf, dass deine Fußspitzen nach vorne zeigen und nicht mit rotieren. Rotiere noch einmal weit nach rechts und links und merke dir jedes mal wie weit du gekommen bist.
Assessment 3 - Enger Stand zur Überprüfung der Balance
Stell dich hüftbreit hin, deine Wirbelsäule ist lang und locker nach oben aufgerichtet. Lass deinen Atem ruhig und gleichmäßig fließen und richte deinen Blick ganz entspannt nach vorne.
Stelle nun den rechten Fuß direkt neben den linken, sodass sich deine beiden Innenknöchel berühren. Überprüfe in dieser Position für ca. 15 Sekunden deine Balance. Fühlst du dich in dieser Position sicher, oder wackelst du ein bisschen?
Wenn das für dich keine große Herausforderung darstellt, versuche die Übung auch einmal mit geschlossenen Augen, sie wird dadurch etwas anspruchsvoller.
Nimm wahr, wie sich dein Stand und deine Balance anfühlt. Stehst du noch genau so sicher? Oder kannst du eine Veränderung bemerken?
Öffne nun deine Augen wieder und nutze diesen Eindruck als Ausgangwert oder Vergleichswert für dein Training.
Beispiel für eine Überprüfung mittels "Rumpfbeuge"
Assessment "Rumpfbeuge" durchführen
Ausführung der Übung "3 - D - Atmung" (Beschreibung folgt in Teil 2 des Blogartikels)
Re - Test mit Assessment "Rumpfbeuge" durchführen
Mach dir aber keinen Stress beim Testen, es geht einfach darum, die für dich und dein "System" beste Übung herauszufinden. Gerade, wenn du bemerkst, dass du nach einer beliebigen Übungseinheit eher unbeweglicher bist oder mehr Schmerzen hast als vorher, lohnt es sich, die einzelnen Übungen einmal auszutesten. Warum das Sinn macht, möchte ich dir anhand eines Beispiels aus meiner Praxis erläutern:
Eine Patientin hat mich kontaktiert, weil sie durch einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule ihren rechten Daumen seit einigen Monaten nicht mehr wirklich spüren konnte. Sie war zu dem Zeitpunkt bereits in Physiotherapeutischer Behandlung und hat gewissenhaft täglich alle Übungen gemacht, die ihr der Therapeut mitgegeben hat. Nachdem sich aber nach wochenlangem Üben keine Veränderung in der Sensibilität des Daumens eingestellt hat, haben wir erst einmal damit begonnen, ihre Übungen mittels Anwendung eines Assessments auf ihre Wirkung zu überprüfen. Überraschenderweise hatte keine der empfohlenen Übungen für sie einen positiven Effekt auf ihr Nervensystem! Im Gegenteil, die meisten Übungen wurden vom Gehirn sogar als "unsicher" wahrgenommen und ihre allgemeine Beweglichkeit wurde schlechter.
Auf der Suche nach neuen, für die Patientin maßgeschneiderten Übungen wurden wir rasch fündig und sofort mit einem riesigen Erfolg belohnt: Bereits einige Wiederholungen der ausgetesteten (nervenmobilisierenden) Übung bewirkten eine Veränderung der Sensibilität des betroffenen Daumens. Am Ende der Therapiestunde und mit nur einer optimal passenden Übung waren praktisch alle Symptome verschwunden und das wochenlange Training wurde auf eine für das Nervensystem perfekte Übung reduziert.
Fazit
Unser Gehirn ist "der Chef" und entscheidet, ob eine Übung für das System Mensch als positiv, neutral oder negativ bewertet wird. Dementsprechend wird es Beweglichkeit freigeben, Stabilität schaffen, Schmerzen reduzieren oder andere Körperfunktionen (z.B. Sehen, Schmerzregulation,...) verbessern.
In meinem nächsten Blogartikel stelle ich dir ein paar meiner Lieblingsübungen vor, die du sofort nachmachen und austesten kannst! Alles Liebe und bleib´ neugierig! Deine Karin
* Erfolg wird meistens als das Erreichen von Zielen und das Überwinden von Herausforderungen definiert. Es ist mir aber ein Anliegen zu betonen, dass Erfolg nicht nur auf materiellen oder beruflichen Leistungen basiert, sondern ein viel breiteres Spektrum umfasst. Erfolg kann und sollte meiner Meinung nach aus einer ganzheitlichen Perspektive betrachtet werden, die sowohl körperliche, mentale, emotionale als auch spirituelle Aspekte einschließt, um ein ausgewogenes und erfülltes Leben zu führen, in dem wir unsere Potentiale entfalten und unsere Ziele verfolgen können.
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